Krise der Kapitalismuskritik?

Organisatoren
Tim Schanetzky / Felix Dümcke / Flemming Falz / Kulturwissenschaftliches Institut Essen
Ort
Essen
Land
Deutschland
Fand statt
Hybrid
Vom - Bis
16.11.2023 - 17.11.2023
Von
Jonas Schmidt, Kulturwissenschaftliches Institut Essen

Lässt sich der Wandel politischer sowie intellektueller Opposition gegenüber neoliberalen Ideen, staatlicher Deregulierung und Privatisierung im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts als eine „Krise der Kapitalismuskritik“ verstehen? Welchen Nutzen bietet der Fokus auf die Widersacher für eine zeithistorische Analyse der politökonomischen und ideologischen Verwirklichung des Neoliberalismus? Die Teilnehmer:innen des Workshops zur „Krise der Kapitalismuskritik?“, der am 16. und 17. November im Kulturwissenschaftlichen Institut Essen (KWI) stattfand, suchten nach Antworten auf diese Fragen. Um zu einer Verständigung über die Geschichte einer etwas mehr als zwanzig Jahre währenden „Übergangsphase“ des Kapitalismus und seiner Kritik beizutragen, diskutierten sie empirisch belastbare Fallstudien, die verschiedene Perspektiven auf die Kritiker:innen, ihre Erfahrungen und die daraus resultierenden „Praktiken der Kritik“ böten, wie es in den einleitenden Vorbemerkungen der Veranstalter hieß.

TIM SCHANETZKY (Essen) rief mit der „Abraham Affair“ eine geschichtswissenschaftliche Auseinandersetzung der 1980er-Jahre in Erinnerung. Der jahrelange Streit um The Collapse of the Weimar Republic (1981), die neomarxistische Dissertation des US-amerikanischen Historikers David Abraham, machte laut Schanetzky wissenschaftspolitische und -theoretische Richtungskämpfe unter Historiker:innen auf beiden Seiten des Atlantiks sichtbar. Ausgangspunkt waren Fälschungsvorwürfe, die bald von Diskussionen über den Stellenwert von (Faschismus-)Theorien und Empirie in der Geschichtswissenschaft überlagert wurden. Dass sich mit Henry A. Turners German Big Business and the Rise of Hitler (1985) schließlich eine Sichtweise auf das Ende der Weimarer Republik durchzusetzen vermochte, welche die Bedeutung der Industrie für den Aufstieg der NSDAP gering ansetzte, warf Fragen nach einer marginalisierten Kapitalismuskritik innerhalb der Geschichtswissenschaft auf.

MAURICE COTTIER (Fribourg) ließ die Zuhörer:innen an seinen Überlegungen hinsichtlich einer Historisierung neoliberaler Ideen links der Mitte teilhaben. Dem Ansatz der intellectual history folgend, formulierte Cottier das Ziel, das „economic imaginary“ US-amerikanischer Intellektueller herauszuarbeiten. Anhand eines Vergleichs der US-amerikanischen Zeitschriften The New Republic und The Nation vermittelte er einen Einblick in die Debattenkultur der beiden Publikationen, die in den 1970er- und 1980er-Jahren vor allem um das Schlagwort „equality“ kreiste. Unterschiede ergaben sich in der Argumentation, wie einer zunehmenden ökonomischen Ungleichheit beizukommen sei. Anders als in The Nation habe sich insbesondere in The New Republic ab den 1980er-Jahren ein marktfreundlicher Kurs durchgesetzt.

FELIX DÜMCKE (Essen) befasste sich in seinem Vortrag mit der Entstehungs- und Rezeptionsgeschichte des Fernsehfilms Väter und Söhne (1986), der die Geschichte der IG Farben kritisch in Szene setzte. Dümcke warf einen Blick auf das widersprüchliche Verhältnis zwischen einem kapitalismuskritischen Historienfilm und dessen Ablehnung durch die Fernsehkritik aufgrund vermeintlich marktkonformer Darstellungsweisen. Darüber hinaus analysierte er die Beziehungen zwischen kapitalismuskritischen Historikern und Unternehmen. Die Ablehnung von Väter und Söhne durch die Jury des Grimme-Preises schien Dümcke wie ein Aufbäumen gegen internationale Darstellungskonventionen, hatten sich im Fernsehfilm seit den 1970er-Jahren doch emotionalisierende Sehgewohnheiten Bahn gebrochen. Die kapitalismuskritischen Historiker wiederum sahen sich infolge der Ausstrahlung einer neuen Strategie der Nachfolgekonzerne ausgesetzt, die ihre Archive öffneten und dadurch Protest resorbierten. Dümcke stellte ein verkompliziertes Verhältnis zwischen Kritikern und Kritisierten fest, das sich eindeutigen Dichotomien entzog, und machte einen „Profilverlust der Kapitalismuskritik“ aus.

JONAS KREIENBAUM (Berlin) verwies in seinem Vortrag auf das „Verstummen“ der Kapitalismuskritiker aus der Dritten Welt in den 1980er-Jahren. War im Jahrzehnt zuvor, insbesondere nach der Ölkrise 1973, noch der Ruf nach einer Neuen Weltwirtschaftsordnung die Kernforderung eines „Third Worldism“ gewesen, hätten sich die politischen Vorzeichen nach dem letzten Nord-Süd-Gipfel im mexikanischen Cancún 1981 verändert. In Zeiten eines „zweiten Kalten Kriegs“ der 1980er-Jahre seien Nord-Süd-Konflikte in den Hintergrund getreten. Eine stärkere Unabhängigkeit der westlichen Industrienationen von den Öllieferungen der OPEC-Staaten verringerte deren „Ölmacht“, sodass sie politischen Forderungen weniger Nachdruck verleihen konnten. Hinzu kam die internationale Schuldenkrise, die ebenso wie die Weltwirtschaftskrise der 1980er Jahre vor allem Staaten der Dritten Welt traf. Am Beispiel Sambias verdeutlichte Kreienbaum die Entwicklung eines Landes, das bereits seit Mitte der 1970er-Jahre von Krediten des Internationalen Währungsfonds (IWF) abhängig war, sich aber auf internationaler Ebene in den 1980er-Jahren gegen die damit verbundenen neoliberalen Reformen zur Wehr setzte. Den Umstand, wonach Kapitalismuskritik und die Forderungen einer wirtschaftlichen Neuordnung der Welt nach 1990 kein Gehör mehr in den westlichen Metropolen fanden, erklärte Kreienbaum mit fehlender „Einigkeit und Verhandlungsmacht“ der Länder des Globalen Südens.

FLEMMING FALZ (Essen) eröffnete den zweiten Tag mit einem Vortrag zur programmatischen Veränderung der britischen Labour Party am Beispiel ihrer housing policy in den Oppositionsjahren zwischen 1979 und 1994. Falz stellte dar, dass eine neue Generation von Labour-Politikern angesichts der Privatisierungspolitik der Tory-Regierung keine Rekommunalisierung forderte. Dies führte Falz auf ihre Erfahrungen in der Wohnungslosenhilfe zurück, infolge derer sich jüngere Politiker als „Sozialstaatskritiker“ positionierten und einen Staat attackierten, der aus ihrer Sicht bevormundend agiere und die Bedürfnisse der Mieter:innen außer Acht lasse. Infolge eines zweiten housing acts der Tories aus dem Jahr 1988, durch den der Verkauf von council houses nicht nur an bisherige Mieter, sondern an private Wohnungsunternehmen ermöglicht wurde, sei in der Labour Party auch auf der lokalen Ebene der Widerstand gegen die Privatisierungspolitik der Konservativen eingebrochen. Das Feld der Wohnungspolitik, so Falz, stelle geradezu ein exemplarisches Politikfeld dar, dessen zeithistorische Analyse zeigt, dass eine Adaption der Privatisierungspolitik innerhalb der Labour Party eine Vorgeschichte hatte, die eine Zäsur in der Parteigeschichte unter dem neuen Vorsitz von Tony Blair und Gordon Brown im Jahr 1994 kontextualisiert.

AGNES ARNDT (Berlin) brachte in ihrem Vortrag eine Ost-West-Perspektive auf die „Krise der Kapitalismuskritik“ in den Workshop ein. Mittels des Konzepts der „Zivilgesellschaft“, dessen Ursprung Arndt in Kreisen ostmitteleuropäischer Dissidenten der 1980er-Jahre verortete und das durch grenzüberschreitende Kontakte verbreitet worden sei, habe es nach 1989/91 in Ost und West ein integratives Angebot gegeben, um Kritiker des Neoliberalismus an eine neue (sozialdemokratische) Politik zu binden. Dies sei vor allem „emotionspolitisch“ geschehen, indem durch das Konzept der Zivilgesellschaft in Zeiten des Utopieverlusts desillusionierte Kräfte links der Mitte mit dem Kapitalismus versöhnt worden seien. Eine inhaltliche Unbestimmtheit des Begriffs sei laut Arndt Voraussetzung für dessen politische Funktion gewesen, die auch darin bestanden habe, die Verantwortung des Einzelnen gegenüber der Gesellschaft zu betonen. Insofern, und hier schloss sich die Referentin einer jüngeren sozialwissenschaftlichen Kritik an, war das Konzept der Zivilgesellschaft seit den 1980er-Jahren eng verbunden mit einer anti-(sozial)staatlichen Politik, die Aufgaben des Gemeinwesens in die Sphäre des Privaten delegiert habe.

Im vierten und letzten Abschnitt, der den Entwicklungen nach 1989/91 gewidmet war, analysierte CHRISTIAN RAU (München) am Beispiel des Hungerstreiks im Kalibergwerk „Thomas Müntzer“ in Bischofferode die veränderten Strategien linker Politik in Nachwende-Deutschland. Der Protest sei von verschiedenen politischen Lagern als Ressource genutzt worden, um gegen die Politik der Treuhand zu opponieren. Rau betonte, dass sich im Zuge des Hungerstreiks 1993 sogar die CDU gegenüber den Streikenden als Arbeiterpartei inszenierte. Gewerkschaften, linke Kleingruppen aus Westdeutschland und die PDS versuchten ebenfalls, den Hungerstreik der Kali-Kumpel zu nutzen, letztere vor allem, um sich als „ostdeutsche Regional- und Protestpartei“ zu positionieren. Eine „Zäsur in der Geschichte der Kapitalismuskritik“ sei der Arbeitskampf in Bischofferode jedoch nicht gewesen, war er doch in „Prozesse der Demokratisierung“ eingebunden. Die Rufe der Bergleute nach Arbeitsplatzsicherheit seien, so Rau, Ausdruck von „Kontinuitäten eines autoritären Staatsverständnisses“ gewesen und standen einer neoliberalen Wende entgegen.

Mit einem Vortrag von CARINA MOSER (TÜBINGEN) kam der Workshop zu seinem Ende. In ihrer Analyse der frühen Jahre der ersten Clinton-Regierung (1993-1997) kam sie zu dem Schluss, dass nur wenige Jahre nach dem Kalten Krieg der demokratisch geführten US-Regierung die Schwächen des kapitalistischen Systems zwar bewusst gewesen seien, sich in den Reihen der Demokraten allerdings noch keine Variante der Kapitalismuskritik formieren konnte. Diese sei erst am Ende der 1990er-Jahre inkorporiert in eine Globalisierungskritik wirksam geworden. Moser explizierte ihre These mit Blick auf die Kabinettsmitglieder des progressiven Flügels der Demokraten wie Arbeitsminister Robert E. Reich, der nach seinem Ausscheiden aus der Regierung 1997 ein Kritiker der Politik Clintons wurde. Reichs Reformgläubigkeit, die er mit Vertretern der Gewerkschaften und Umweltverbände teilte, sei durch Clintons Politik des Freihandels wie dem NAFTA-Abkommen (1994) erschüttert worden. Die Forderungen nach Regulierungsmechanismen konnten in der Folge zu einem Kernanliegen der globalisierungskritischen Bewegung werden, so Moser.

Im Ergebnis schlugen die Vorträge und besonders die Diskussionen zwischen Referent:innen, Moderator:innen und anderen Teilnehmer:innen, die während des Workshops auf produktive Weise erheblichen Raum einnahmen, dreierlei Pfade durch das Dickicht einer Zeitgeschichte der Kapitalismuskritik: Erstens erwies sich ein beschleunigter Wandel des Kapitalismus seit den 1970er Jahren als enorme Herausforderung für die kritischen Analysepotentiale und intervenierenden Handlungsräume intellektueller und parteipolitischer Kräfte; zweitens vereinte Anti-Etatismus und nicht Anti-Kapitalismus viele Akteure links der Mitte – ob in sozialdemokratischen und liberalen Parteien, Gewerkschaften, außerparlamentarischen Gruppen oder in der Wissenschaft (das bedenkenswerte Gegenbeispiel waren die Streikenden in Bischofferode); drittens spielte mit Verweis auf die Empirie die Epochenzäsur von 1989/91 eine untergeordnete Rolle, um eine „Krise der Kapitalismuskritik“ zu analysieren.

Gewiss öffnete der Diskussionszusammenhang des Workshops einen Raum für weitere Erörterungen hinsichtlich der Geschichte des Neoliberalismus respektive des Kapitalismus zwischen den 1970er-Jahren und 2001. In jenem Jahr sei im Zuge der Anti-Globalisierungsproteste gegen den G8-Gipfel in Genua Kapitalismuskritik in gewandelter Form als Globalisierungskritik dominant geworden, lautete das Periodisierungsangebot der Ausrichter. Dass es sich bei der Geschichte des Neoliberalismus in den 30 Jahren zuvor nicht um eine paternalistische Durchsetzung des Programms der Mont Pèlerin Society und anderer Gruppen handelte, sondern die relative Schwäche der politischen und intellektuellen Opponenten erklärt werden sollte, verdeutlichte der Workshop.

Die Frage, warum die Kritiker des Kapitalismus im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts in die Defensive gerieten, lässt sich jedoch womöglich nicht beantworten, wenn der Ansatz, nach den „Praktiken der Kritik“ zu fragen, nicht erweitert wird. Politische und ökonomische Machtkonstellationen geraten so aus dem Sichtfeld. Eine Tendenz, den Epochenbruch 1989/91 in einer Geschichte der Kapitalismuskritik gering zu achten, neigt dazu, diese Gegebenheiten, das plötzliche Ende bestehender gesellschaftlicher Alternativen zum Kapitalismus, auszublenden. Dies bedeutet letztlich, den historischen Verlauf kapitalistischer Vergesellschaftung und Traditionen des Antagonismus, demzufolge die Geschichte der sozialistischen Staaten, aus dem Blick zu verlieren. Es passt insofern ins Bild, dass die Teilnehmer:innen Entwicklungen innerhalb der kommunistischen Parteien vor 1989 und die Ansichten der Intellektuellen, die diesen Parteien nahestanden, und die ja gerade für die Transformationszeit aufschlussreich wären, nicht thematisierten. Überlegungen zu einer konstatierten „Krise der Kapitalismuskritik“ im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts sollten diesen Aspekt berücksichtigen, ebenso wie Begriffsdiskussionen hinsichtlich der geistesgeschichtlichen Reizworte „Krise“ und „Kritik“ mehr Raum einnehmen dürften. Nichtsdestotrotz: Die Teilnehmer:innen des Workshops zur „Krise der Kapitalismuskritik?“ gaben einige Denkanstöße und legten empirische Forschungen zu einem lohnenden Thema der Zeitgeschichte vor.

Konferenzübersicht

Jahrzehnt der Kritik
Moderation: Reinhild Kreis

Tim Schanetzky (Essen): Kapitalismuskritik und Aufstieg des Neoliberalismus

Maurice Cottier (Fribourg): Die US-amerikanischen Liberals, das „Equality Paradigm“ und der Neoliberalismus

Neue Schauplätze
Moderation: Ute Schneider

Felix Dümcke (Essen/Chemnitz): „Väter und Söhne“. Das Fernsehen, die Kritiker und der Kapitalismus

Jonas Kreienbaum (Berlin): Der Tod der „Neuen Weltwirtschaftsordnung“ und der Aufstieg des Neoliberalismus. Zum Verstummen der Kritik aus der Dritten Welt in den 1980er Jahren

Transformation
Moderation: Nikolai Wehrs

Flemming Falz (Essen/Leipzig): Wege aus der „Wildnis“. Sozialstaatskritik statt Kapitalismuskritik?

Agnes Arndt (Berlin): What’s left? Utopieverlust und Neoliberalismus

Neoliberaler Konsens
Moderation: David Kuchenbuch

Christian Rau (München): Gegen den „Ausverkauf“. Der Hungerstreik von Bischofferode als Experimentierfeld linker Zukunftsentwürfe im vereinten Deutschland

Carina Moser (Tübingen): Nachdenken über „Globalisierung“ und „Kapitalismus“ in den Clinton-Jahren – (Kein) Raum für Kritik

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